»Ich stehe zwischen zwei Feuern: meiner Familie und meiner Mutter, die sich noch immer wie ein Kind benimmt«
Manchmal habe ich das Gefühl, ich lebe nicht mein eigenes Leben, sondern das von jemand anderem. Als ob mein eigenes Glück immer auf später verschoben wird, weil da eine erwachsene Frau ist, die sich weigert, erwachsen zu werden. Das ist meine Mutter. Sie ist übrigens schon 60, aber es fühlt sich an, als wäre sie fünfzehn. Sie taumelt durchs Leben wie ein Teenager, unfähig, eine einzige vernünftige Entscheidung zu treffen. Und ich… ich zerreiße mich. Zwischen ihr, meinen Kindern, meinem Mann, dem Haushalt, der Arbeit. Und das alles – ganz allein.
Meine Mutter bekam mich direkt nach der Schule, in Köln. Damals dachte sie, Liebe sei alles, was man zum Glück braucht. Mein Vater vergötterte sie, beschützte sie, trug sie buchstäblich auf Händen. Er arbeitete, brachte Geld nach Hause, löste alle Probleme. Meine Mutter hingegen – kein einziger Tag Arbeit. Der Haushalt? Dafür war die Oma zuständig. Mein Opa schaute einfach weg. Sie dachten, je weniger sich meine Mutter anstrengen müsse, desto besser. Und so zogen sie eine hilflose Frau groß.
Als ich elf war, starb mein Vater plötzlich – Herzinfarkt. Ich erinnere mich noch an diesen Abend: Tränen, Geschrei, die hysterische Stimme meiner Mutter und die Stille, die sich danach über Jahre hinzog. Wir zogen zu Oma und Opa – meine Mutter kam allein nicht klar. Sie lag tagelang im Bett, stand nicht auf, und ich, ein Kind, musste vieles übernehmen. Kochen, lernen, schweigen, nicht stören.
Oma brach unter der Last des Kummers zusammen und starb sieben Monate später. Vor ihrem Tod überschrieb sie ihre Zweizimmerwohnung auf mich. »Du bist die Einzige mit Verstand bei uns«, sagte sie. Meine Mutter blieb bei Opa, der sie, den Haushalt und die Medikamente stemmte. Arbeit, Rente, Ärzte, Nebenkosten – alles hing an ihm. Und meine Mutter? Saß nur da, jammerte, weinte, bemitleidete sich. Hin und wieder versuchte sie, ihr Liebesleben aufzurütteln, aber ihre »Romanzen« hielten höchstens ein paar Monate. Kein Mann blieb lange – was sollte man auch mit ihr anfangen?
Dann wuchs ich auf. Studierte, traf Lukas. Wir verliebten uns, heirateten, renovierten besagte Oma-Wohnung. Sie gehörte mir ohnehin schon, und ich fühlte mich wie die Herrin meines kleinen Reichs. Unser erstes Kind, ein Junge, kam, drei Jahre später folgte die Tochter. Ich wirbelte durch den Alltag, schaffte alles. Bis meine Mutter wieder in unser Leben platzte.
Zuerst starb Opa. Dann – fast gleichzeitig – seine Schwester, die uns mit den Kindern geholfen hatte. Und meine Mutter blieb allein zurück. Ohne Familie, ohne Wohnung – sie weigerte sich, allein im alten Haus zu leben, und blieb einfach in unserer Wohnung hängen.
Sie kann nichts. Nicht zum Amt gehen, nicht die Stromrechnung bezahlen, nicht mal einen Handwerker rufen. Die Nebenkosten stapelten sich, bis ich eingriff. Ich redete ihr zu, wenigstens eine Stelle als Pförtnerin oder Betreuerin zu suchen – doch sie wollte nicht einmal zuhören. Weinte, beschwerte sich über Bluthochdruck, Migräne und dass »alles sinnlos« sei.
Einmal flutete sie die Nachbarn – vergaß den Schlauch der Waschmaschine. Ich musste es ausbaden. Sie heulte einfach los, als der wütende Nachbar kam. Er schrie, ich errötete, meine Mutter zitterte – und am Ende war ich die Schuldige.
Jetzt ruft sie mich drei-, viermal am Tag an. Wenn die Nachbarn lärmen, wenn die Glühbirne durchbrennt, wenn sie nicht weiß, welchen Brei sie kochen soll. Dabei klingt keine Spur von Scham in ihrer Stimme. Und ich? Ich habe keine Kraft mehr, keine Worte. Ich komme erschöpft von der Arbeit nach Hause, wo zwei Kinder und ein Mann warten, der auch Aufmerksamkeit braucht. Aber ich darf nicht zusammenklappen, denn meine Mutter wartet schon darauf, dass ich sie wieder rette.
Ich kann mich nicht auf sie verlassen. Selbst mit den Enkeln allein lassen? Unmöglich. Mal vergisst sie, sie zu füttern, mal verläuft sie sich draußen. Alles in ihrer Welt – wie hinter einem Schleier.
Manchmal frage ich mich: Will sie sich vielleicht einfach nicht ändern? Es ist bequem, schwach zu sein. Bequem, alles auf andere abzuwälzen. Solange sie das Opfer ist, wird sie bemitleidet. Und ich? Ich brenne aus. Schweigend.
Sie im Stich lassen kann ich nicht. Sie ist immerhin meine Mutter. Aber sie weiterzuschleppen – das übersteigt meine Kräfte. Ich hoffe, dass sie eines Tages aufwacht und begreift: Sie ist 60. Das ist ihre letzte Chance, erwachsen zu sein. Verantwortlich. Selbstständig.
Nur fürchte ich, dass in ihrem Leben alles kindisch bleibt: Launen, Gejammer, fremde Schultern. Und ich? Ich bin einfach müde, für zwei erwachsen sein zu müssen.