Greta saß auf der Veranda ihres Elternhauses und blickte auf den staubigen Pfad, der zum Fluss führte. Ihr rotes Haar, das in der Sonne schimmerte, schien der einzige Farbtupfer in diesem grauen Dorfleben zu sein. Schon als Kind war sie anders gewesen: Sommersprossen, rote Brauen, eine leicht stupsige Nase – all das machte sie zum Ziel von Spott. Die Kinder in der Schule hänselten sie, und Greta, die die Zähne zusammenbiss, träumte nur davon, diesem Dorf zu entfliehen und ein neues Leben zu beginnen, wo niemand auf ihre rote Mähne zeigen würde.
Ihr Vater strich ihr manchmal über den Kopf und sagte: „Die werden dir noch nachlaufen, mein Mädchen, du bist eine Schönheit.“ Doch Greta glaubte ihm nicht. Nachts weinte sie in ihr Kissen und schwor sich, nach der Schule wegzuziehen – dorthin, wo sie selbstbewusst, glücklich und geliebt sein könnte.
Im Frühjahr, als Greta die Schule abgeschlossen hatte, kam eine Kommission aus der Bezirksstadt ins Dorf, um den Bau einer neuen Brücke zu prüfen. Unter den Ingenieuren war er – Thomas. Klein, mit Brille und einem leichten Rotstich im Haar, entsprach er gar nicht ihrem Traummann. Doch sein warmer, aufmerksamer Blick traf sie, als sie das Büro betrat, in dem ihre Mutter arbeitete. Thomas konnte die Augen nicht von ihr lassen, und Greta spürte, wie ihr die Wangen glühten.
Er erwies sich als beharrlich. Nach Feierabend suchte er sie auf und bat um einen Spaziergang. Greta willigte schließlich ein. Er brachte Süßigkeiten mit, bewirtete sie und ihre Mutter, erzählte von seinem Leben in der Stadt – bei seiner Mutter, die sich nach Enkeln sehnte und fürchtete, ihr Sohn bliebe allein. Gretas Hoffnung wuchs. Vielleicht war das ihre Chance?
Die Kommission reiste ab, und Greta kehrte zum Alltag zurück. Sie half ihrem Vater im Garten, schob die Schubkarre voll Kompost, jätete Beete und fütterte Hühner und Kaninchen. Die Mutter hoffte, die Tochter bliebe im Dorf, heiratete einen Einheimischen und arbeitete im Laden – man suchte gerade eine Verkäuferin. Doch Greta sah die staubigen Wege und dachte: „Ist das wirklich alles, was mir bestimmt ist?“
Plötzlich fiel ihr Thomas ein. Er hatte versprochen zurückzukommen. Er wollte sie heiraten. Damals hatte sie gelacht, doch jetzt fragte sie sich: Warum nicht? Er war gutherzig, ehrlich und – seltsamerweise – ebenfalls rötlich im Haar. Vielleicht verstand er sie. Greta beschleunigte ihre Schritte, um ihren Vater einzuholen, und lächelte zum ersten Mal seit langer Zeit.
Zwei Wochen später kam Thomas. Sein altes, aber blitzblank poliertes Auto hielt vor ihrem Haus. Er brachte eine Torte, Süßigkeiten und eine Flasche guten Wein für den Vater, die die Mutter sogleich im Schrank verstaut. „Geht zum Fluss spazieren, ich decke inzwischen den Tisch“, sagte sie geschäftig, als ahnte sie, warum der Gast gekommen war. Der Vater schüttelte Thomas die Hand, musterte ihn streng, doch nach ein paar Gläsern wurde er weicher. Offenbar sah er, dass dieser Mann für seine Greta eine solide Stütze sein würde.
Die Schwiegermutter empfing Greta mit einer Wärme, die sie verunsicherte. Das ehrliche Lächeln der alten Dame zerstreute ihre letzten Zweifel. Greta lief durch die städtische Wohnung in München und konnte kaum glauben, dass dies nun ihr Zuhause war. Sie war eine Städterin, verheiratet, mit einem neuen Leben! Die Schwiegermutter half ihr, einen Job zu finden, und Greta schrieb sich für ein Fernstudium ein. Thomas liebte sie, wie sie es sich nie hätte träumen lassen.
Am Wochenende fuhren sie ins Dorf. Thomas half dem Vater, obwohl er als Stadtmensch keine Übung hatte. Greta und die Mutter kochten und plauderten, während die Eltern ihr Auto mit Gemüse, Eingemachtem und Geflügel beluden. Das Gehalt von Greta und Thomas war bescheiden. Er, trotz seines Talents, wagte nicht, um eine Gehaltserhöhung zu bitten, und das Geld reichte kaum.
Nach zwei Jahren wurde Tochter Lina geboren. Das Stadtleben war nicht immer einfach, doch Thomas gab sein Bestes. Er wechselte zu einem besser bezahlten Job, und die Schwiegermutter, nun in Rente, kümmerte sich um die Enkelin. Greta schloss ihr Studium ab und wurde befördert. Manchmal rief sie der Chef zu Besprechungen. Ihre Freundin Petra bemerkte einmal: „Der Herr Meier lädt dich oft ein. Er ist großzügig – wenn er ein Auge auf dich geworfen hat, nutze es. So machen es alle.“
„Was redest du da?“, empörte sich Greta, doch ein Funke Zweifel blieb. Petra lachte und zeigte ihre neuen Ohrringe mit Steinen – Greta wusste, woher sie kamen. Nachts lag sie wach und grübelte. Sie hatte Thomas nicht aus großer Liebe geheiratet, sondern um dem Dorf zu entkommen. Er war gut und treu, aber das Geld reichte nicht. Vielleicht hatte Petra recht? Für Lina, für Thomas würde sie vieles tun. Sagen, es sei eine Prämie gewesen, und alle wären glücklich.
Doch dann hielt sie inne. Plötzlich begriff sie, dass sie Thomas liebte. Seine Art zu lächeln, seine Fürsorge, seine unbeholfenen Versuche, besser zu werden. Wie konnte sie nur an etwas anderes denken? Eine Woche später wurde sie befördert – der Chef schätzte ihre präzisen Berichte. Bald wagte Thomas, seine Entwürfe dem Direktor zu zeigen. Man bot ihm die Leitung eines Projekts an.
Drei Jahre später kam Sohn Lukas zur Welt. Petra sagte einmal: „Respekt, Greta, alles für die Familie, was? Seit deinen Besuchen beim Chef läuft es bei euch.“ Greta lächelte nur. Sie erzählte nicht die Wahrheit. Herr Meier lobte ihre Arbeit, und auf seinem Schreibtisch stand ein Foto seiner Frau und einer rothaarigen Tochter. „Sie ähneln ihr, Greta. Rothaarige schätze ich – gute Mitarbeiter“, scherzte er. Sie lachten, und Greta dankte im Stillen dem Schicksal, dass sie der Versuchung widerstanden hatte.
Bei der silbernen Hochzeit, als die Gäste „Hoch soll sie leben!“ riefen, blickte Greta auf Thomas, Lina und Lukas. Ihr Herz war voll. Sie war bereit, alles für ihre Familie zu tun – fast alles.