**Tagebuch, 12. Oktober 2023**
Mein Mann brachte mich in sein Heimatdorf, um mich seinen Eltern vorzustellen. Als ich seine Mutter sah, erstarrte ich vor Angst – doch dann geschah etwas Unerwartetes…
Ich betrat das Haus, mich fest an der Hand meines Mannes, Lukas, haltend. Drinnen war es überraschend gemütlich: bunte Vorhänge ließen das letzte Licht der Abendsonne hinein, und der Duft frisch gebackenen Brotes hing in der Luft. An den Wänden hingen Familienfotos in altmodischen, aber blank polierten Rahmen – ein Zeichen für liebevolle Pflege.
„Wo ist Vater?“, fragte Lukas, während seine Mutter, Gisela Schmidt, uns in die Küche führte.
„Beim Onkel Heinrich, repariert was am Traktor. Ich hab ihm Bescheid gegeben, dass ihr da seid. Kommt gleich“, antwortete sie mit warmer Stimme.
Die Küche war das Herz des Hauses – geräumig, warm, mit einem Ofen, in dem das Feuer knisterte und Behaglichkeit verbreitete. Auf dem karierten Tischtuch standen bereits Teller, Besteck und Kristallgläser – offensichtlich für diesen besonderen Anlass hervorgeholt.
„Setz dich, Kind, kein Grund für Schüchternheit“, drängte mich Gisela sanft auf einen Stuhl. „Du bist ja so zart! Da muss ich dich aufpäppeln. Wie willst du mir so Enkelkinder schenken?“
Meine Wangen glühten vor Verlegenheit. Lukas kicherte leise.
„Mama, wir sind erst seit zwanzig Minuten hier, und du redest schon von Enkeln?“
„Soll ich etwa warten, bis ich auf dem Sterbebett liege?“, rief sie dramatisch, doch ihre Augen funkelten belustigt. „Ich bin dreiundsechzig – ich will Enkel auf den Arm nehmen, solange meine Hände noch können!“
Sie stellte eine dampfende Schüssel mit Suppe auf den Tisch.
„Kartoffelsuppe mit Fleischklößchen“, verkündete sie stolz. „Familienrezept, seit Generationen weitergegeben.“
Der Duft weckte meinen Hunger, von dem ich gar nichts geahnt hatte. Gisela bemerkte es und lächelte zufrieden.
„Sieh an, das Mädchen hat Appetit – ein gutes Zeichen!“
Gerade als ich mich entspannte, knallte die Haustür. Schwere Schritte polterten durch den Flur, und in der Küchentür erschien ein großer Mann mit grauem Haar und wettergegerbtem Gesicht. Seine Augen – genau wie die von Lukas – musterten mich prüfend.
„Das ist sie also?“, brummte er und setzte sich an den Tisch. „Die Schwiegertochter?“
„Fritz, benimm dich“, maßregelte ihn Gisela. „Stell dich ordentlich vor.“
Der Mann sah mich von oben bis unten an, und in meinem Magen verknotete sich die Angst erneut.
„Fritz Meier“, sagte er kurz und streckte mir seine schwielige Hand entgegen. „Und du bist?“
„Lena“, antwortete ich und schüttelte seinen rauen Händedruck.
Stille breitete sich aus. Seine Hand umschloss meine fest, sein Blick drang mir ins Mark. Doch plötzlich verzogen sich seine Lippen zu einer unerwartet warmen Grinse.
„Willkommen in der Familie, Lena.“
Das Abendessen verlief überraschend locker. Gisela erzählte Geschichten aus Lukas‘ Kindheit, die ihn erröten ließen, während Fritz mit peinlichen Details nachlegte.
„Weißt du, dass unser Luki mit acht Jahren von zu Hause weglaufen wollte?“, rief Gisela und schob mir eine Portion Sauerbraten zu. „Hat drei Bücher, einen Apfel und eine Handvoll Bonbons eingepackt und verkündet, er zieht nach Berlin, um Dichter zu werden!“
Ich lachte bei dem Bild des kleinen Lukas mit seinem Rucksack.
„Und wo ist er gelandet?“, fragte ich neugierig.
„Beim Gartenschuppen“, grunzte Fritz. „Hat sich unter den Apfelbaum gesetzt, gelesen und ist eingeschlafen. Abends fanden wir ihn – Buch übers Gesicht, Apfel daneben, unangetastet.“
Nach dem Essen zeigte uns Gisela ein kleines, aber herzliches Zimmer. Auf dem Bett lag eine handgefertigte Steppdecke, auf dem Nachttisch ein paar alte Bücher.
„Lukis Zimmer“, sagte sie stolz. „Hab es gelassen, wie es war.“
Ich strich über die abgegriffenen Buchrücken – Goethe, Schiller, Hesse, Fontane.
„Lukas hat erzählt, Sie waren Deutschlehrerin“, sagte ich zu Gisela.
Ihr Blick wurde weich.
„Vierzig Jahre an der Dorfschule“, nickte sie. „Die Kinder nannten mich ‚Donnerwetter‘ – streng wie ein Gewitter, aber mit goldenem Herzen.“ Sie lachte. „Luki fand, ich sei zu hart zu den Schülern.“
„Nicht hart, Mama, fordernd“, warf Lukas ein. „Deshalb sind deine Schüler auch so gute Menschen geworden.“
In jener Nacht, in Lukis schmaler Jugendbett liegend, flüsterte ich:
„Deine Familie ist wunderbar.“
Er drückte mich an sich.
„Hattest dir umsonst Sorgen gemacht.“
„Geb ich zu“, seufzte ich. „Als ich deine Mutter sah, dachte ich, sie würde mich bei lebendigem Leibe verschlingen.“
Lukis Schultern bebten vor Lachen.
„Das denken viele. Sie war schon immer so – stark, hielt Haus und Schule im Griff. Vater sagt, er verliebte sich, als sie ihm eine Standpauke hielt, weil er Heine falsch rezitiert hatte.“
Am nächsten Morgen stand ich mit Gisela in der Küche. Sie reichte mir eine Schürze.
„Kannst du Pfannkuchen backen?“, fragte sie und musterte mich skeptisch.
„Meine Oma hat mir ihr Rezept verraten“, sagte ich und nahm eine Schüssel.
„Gut. Zeig, was du kannst – dann sehe ich, ob mein Mann deine Pfannkuchen verdient.“
Es war eine Prüfung, doch die Angst war verflogen. Gisela beobachtete aufmerksam, nicht abwertend, sondern interessiert.
„Zimt im Teig?“, wunderte sie sich. „Interessant.“
„Geheimzutat meiner Oma“, erklärte ich. „Gibt eine besondere Note.“
Als ich den ersten Pfannkuchen wendete, musterte Gisela ihn, schnupperte und probierte ein kleines Stück. Überraschung, dann Zustimmung.
„Nicht schlecht, Kind, wirklich nicht. Ich zeig dir auch ein paar meiner Tricks.“
Ich verstand: Das war die endgültige Akzeptanz. Die nächsten Stunden verbrachten wir kochend, tauschten Rezepte und Anekdoten. Meine anfängliche Angst war wie weggeblasen.
Als Lukas und sein Vater hereinkamen, fanden sie uns lachend vor, wie Gisela mir zeigte, wie man einen Hefezopf flechtet.
„Was geht denn hier vor?“, staunte Fritz.
Gisela zwinkerte mir zu.
„Ich gebe dem Mädchen unser Familienwissen weiter. Geschickte Hände hat sie – wird eine gute Frau und Mutter.“
Vor der Abreise drückte mir Gisela ein großes Paket in die Hände.
„Ein paar Gläser für euch“, erklärte sie. „Apfelmus, Gurken, Johannisbeergelee. Und das hier – mein Rezeptbuch. Möchte es dir schenken.“
Ich erstarrte beim Anblick des alten Notizbuchs mit ihrer sauberen Handschrift.
„Aber … das ist doch Ihr Familienschatz.“
„Eben“, lächelte sie. „Und du gehörst jetzt dazu.“
Beim Abschied umarmte sie mich erneut – diesmal nicht furchteinflößend, sondern warm wie ein Kaminfeuer.
„Pass auf meinen Jungen auf“, flüsterte sie. „Und kommt bald wieder. Im Frühling zeig ich dir meinen Garten.“
Im Auto fragte Lukas:
„Na? Immer noch Angst„Nein“, lächelte ich und strich über das Rezeptbuch in meinen Händen, „nur noch Vorfreude auf unseren nächsten Besuch.“