Lebe für mich

Katharina durchforstete alte Sachen im Zimmer ihres Sohnes, als sie hinter einem Stapel Bücher eine vergilbte Postkarte entdeckte. In kindlicher Schrift stand darauf: »Mama, du bist mein Ein und Alles!« Sie drückte die Karte an ihre Brust, und ihr Herz verkrampfte sich vor plötzlichem Schmerz. Sie lehnte sich gegen die kühle Wand, glitt langsam zu Boden, und wie ein gebrochener Damm stürzten ihre Tränen unaufhaltsam über ihr Gesicht. Die Trauer, die sie so tief in sich vergraben hatte, überwältigte sie aufs Neue.

Sieben Jahre war es her, seit sie ihren einzigen Sohn, Lukas, verloren hatte. Erst jetzt hatte sie den Mut gefasst, seine Sachen anzufassen, die Erinnerungen an ihn bewahrten. Diese einfache, aber so lebendige Karte riss ihr das Herz entzwei. Sie wollte schreien, den Schmerz hinausschreien, der sie von innen verbrannte. Sie erinnerte sich daran, wie Lukas gerade fünfzehn geworden war …

»Ich werde dich nie erwachsen sehen, nie deine Kinder …«, flüsterte sie und musterte die leere Stille des Zimmers. Seine Lieblingsbücher standen im Regal, sein alter Handy und verstreute Hefte lagen auf dem Tisch. Alles wirkte so, als hätte er nur kurz das Zimmer verlassen und würde jeden Augenblick mit seinem strahlenden Lächeln zurückkehren.

Dann kam die Erinnerung an den Tag, der alles zerstört hatte. Lukas war mit Freunden zum Wandern in die Berge bei München aufgebrochen. Die erste Woche verlief ruhig, doch an jenem Morgen wurde Katharina von einer unerklärlichen Angst geweckt. Die Dämmerung hatte kaum begonnen, und doch pochte ihr Herz schon vor Panik. Die Stille im Haus war beängstigend. Sie griff nach dem Telefon, um die finsteren Gedanken zu vertreiben.

»Ich rufe ihn lieber an, nur um sicherzugehen«, dachte sie und wählte Lukas’ Nummer. Doch es klingelte nur endlos. Sie rief wieder und wieder an – vergeblich. Gegen Mittag, nach unzähligen Anrufen bei seinen Freunden, erfuhr sie die schreckliche Wahrheit: Ihr Sohn war im Morgengrauen von einer Klippe gestürzt. Keiner wusste, warum er dort allein gewesen war. Als seine Freunde seinen Schrei hörten, war es bereits zu spät. Lukas war tot.

»Mein Junge … wie soll ich ohne dich leben?«, flüsterte Katharina in die Leere. »Wofür soll ich noch weiterleben?«

Sie erinnerte sich an den Tag der Beerdigung. Sie und ihr Mann waren in ein Haus zurückgekehrt, das ebenso kalt und leer war wie ihre Herzen. Es fühlte sich an, als wäre es mit ihrem Sohn gestorben. Eine unsichtbare Mauer hatte sich zwischen sie geschoben. Kein Wunder, dass ihr Mann bald seine Tasche packte und ging. »Hier hält mich nichts mehr«, waren seine letzten Worte.

»Mich auch nicht«, wiederholte sie tonlos und sah ihm nach. In diesem Moment versank der Boden unter ihr, und sie fiel in eine bodenlose Dunkelheit. Sie suchte Halt, fand aber nur Leere. Ein Teil ihrer Seele war in diesem Moment gestorben. Sie versuchte weiterzumachen, wagte sogar neue Beziehungen – doch ihre Kraft war längst verbraucht.

Und heute hatte sie auch noch ihren Job verloren. Das Geld würde nicht einmal mehr für die Miete reichen. Katharina öffnete die Postkarte wieder, und stille Tränen fielen auf die verblassten Buchstaben. Der Gedanke an den Tod erschien ihr plötzlich als Erlösung. Es war keine Angst da – nur Mitleid mit sich selbst.

»Lebe für mich, Mama.« Plötzlich erklang Lukas’ Stimme, so klar und echt, dass sie zusammenzuckte. Das konnte keine Einbildung sein.

»Wie soll ich leben, wenn du nicht mehr da bist?«, flüsterte sie und suchte mit verzweifeltem Blick das Zimmer ab. »Ich bin ganz allein.«

»Du bist nicht allein. Ich bin immer bei dir«, sprach die Stimme weiter. »Es tut mir weh, wenn du mich nicht loslassen kannst und so etwas denkst. Wenn du gehst, werde ich nie Frieden finden. Lass mich gehen, Mama. Leben! Beten! Wenn du glücklich bist, dann bin ich es auch. Doch wenn du leidest, wird auch mein Schmerz unerträglich. Lebe für mich – und für diejenigen, die dich brauchen.«

»Wie kann ich ohne dich glücklich sein?«, würgte sie zwischen Tränen.

»Du musst es. All die Liebe, die du für mich empfunden hast – gib sie denen, die noch in dein Leben treten werden. Meine Zeit war kurz – so wurde es bestimmt. Aber dein Schicksal ist es, jemanden glücklich zu machen.«

»Wen?«, schrie sie fast, doch keine Antwort kam. Das Zimmer begann sich zu drehen, und als Katharina die Augen schloss, fühlte sie, wie sie in einen dunklen SchaumMit einem tiefen Atemzug stand sie auf, wischte sich die Tränen weg und wusste plötzlich, dass ihr Weg noch nicht zu Ende war.

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