Leb einfach lange, Mama!

Lebe einfach noch lange, Mama

Gertrud Meier saß am Küchentisch und blickte zum Fenster hinaus, wo hinter dem schiefen Zaun ihre Schwiegertochter und Enkelin flüsternd über sie herzogen. Die Familie hatte sich gegen sie verschworen, seit sie sich weigerte, das Haus zu verkaufen, das sie nur verächtlich als „Bauernhütte“ bezeichneten.

„Die Alte klammert sich an ihren Dreck! Denkt nur an sich selbst!“, rief die Enkelin.

„Hat ihr ganzes Leben nur genommen, nie etwas für ihren Sohn getan!“, zischte die Schwiegertochter, wohl wissend, dass Gertrud sie hörte. „Könnte wenigstens für die Enkelin noch was tun, bevor sie abkratzt!“

Die Worte der Schwiegertochter brannten, doch die der Enkelin trafen sie ins Herz. Gertrud hatte solchen Hass von ihrem eigenen Blut nicht erwartet. „Wölfe im Schafspelz“, dachte sie und wischte sich eine Träne fort. Wäre ihr Heinrich noch am Leben, hätte er das nie zugelassen. Doch er war lange fort, und nun stand sie allein gegen die eigenen Leute, die ihr fremd geworden waren.

Gertrud Meier war zweiundsiebzig. In ihrem Alter harkte sie noch den Garten, setzte Kartoffeln, kochte Marmelade und füllte Gläser für den Winter. Das Haus und das Land, das sie von ihren Eltern geerbt hatte, waren ihre Welt. Hier war sie aufgewachsen, hatte ihre Jugend verbracht, hier wollte sie alt werden.

Das Dorf, in dem ihr Haus stand, lag früher zwanzig Kilometer von Frankfurt entfernt. Die Busse fuhren selten, und die Städter nannten die Gegend spöttisch „die Pampa“. Gertrud verstand das nie. Sie liebte ihr Haus, die Wälder, den Bach, die Beeren und Pilze. Das Leben hier war einfach, aber reich.

Mit der Zeit fraß sich die Stadt näher heran. Ackerland wurde zu Neubaugebieten, der Boden wertvoll. Häuser wurden aufgekauft, abgerissen, durch Villen ersetzt. Das Dorf wurde zum Vorort – Supermärkte, Straßen, Arbeitsplätze kamen. Das Leben wurde bequemer, aber Gertrud hatte sich nie beschwert. Dieses Haus war ihre Wurzeln, ihre Seele.

Als sie Heinrich heiratete, war nie die Frage aufgekommen, wo sie wohnen würden. Das Elternhaus war geräumig, es gab Platz genug. Ihre Schwiegermutter hatte sie in die Stadt locken wollen, schwärmte vom städtischen Leben, als würden die Leute hier nur vegetieren. Doch Gertrud wusste: In einer engen Einzimmerwohnung mit den Schwiegereltern gäbe es nur Zank. Ihre Mutter hatte damals nur gelacht:

„Wir haben hier Natur, frische Luft, eigenes Gemüse!“

Die Schwiegermutter winkte ab: Gurken könne man auch im Laden kaufen. Doch später verstand sie, was Gertruds Mutter gemeint hatte.

Die Schwiegermutter war eine gute Frau. Als Gertrud und Heinrich ihren Sohn Jakob bekamen, nahm sie Urlaub und kam, um zu helfen. Gertruds Mutter war erst beleidigt, doch dann gab sie nach – der erste Enkel, alle freuten sich. Jakob wuchs im Schoß zweier Großmütter auf. Die Schwiegermutter wurde zur Stammgast, und das Haus füllte sich mit Wärme.

Gertrud erinnerte sich sehnsüchtig an die Sommer. Im August saßen sie, ihre Mutter und die Schwiegermutter auf der Veranda, planten den Tag, ernteten, kochten Marmelade und formten Maultaschen. Das Lachen hörte nie auf. Die Männer kamen vom Angeln zurück und flickten irgendwas am Haus. Abends redeten sie am großen Tisch über Gott und die Welt. Es schien, als würde das Leben nie enden.

Doch der Winter brachte immer Unbehagen. Gertrud mochte die kalte Jahreszeit nicht, spürte eine unerklärliche Angst. Später begriff sie: Es war eine Vorahnung.

Zuerst ging der Schwiegervater. Auf glattem Eis ausgerutscht, mit dem Kopf gegen den Bordstein geknallt. Die Verletzung war tödlich. Auf dem Friedhof schrie die Schwiegermutter so verzweifelt, dass Gertrud zum ersten Mal verstand, wie echter Schmerz klingt. Innerhalb von Wochen wurde die Frau alt, ihre Augen leer. Gertruds Mutter bestand darauf, dass sie zu ihnen zog.

„Würde ich meinen Mann verlieren, würde ich verrückt werden“, sagte sie. „Familie ist da, damit man einander davor bewahrt.“

Im Frühjahr kam die Schwiegermutter. In der Stadtwohnung erinnerte alles an ihren Mann. Sie fing in der örtlichen Geflügelfarm an, wo Gertrud und ihre Mutter schon arbeiteten. Sie lebten friedlich, ohne Streit. Doch seitdem quälte Gertrud die Angst, Heinrich oder Jakob zu verlieren. Der Gedanke erstickte sie.

Als Nächstes starb Gertruds Vater. Beim Schneeschippen erlitt er einen Herzinfarkt. Ohne Heinrich und die Schwiegermutter hätte Gertrud das nicht überstanden. Der einzige Mann in der Familie war nun ihr Mann. Er übernahm alle schweren Arbeiten. Die beiden Witwen, ihre Mutter und die Schwiegermutter, stützten einander. Der Schmerz stumpfte ab, blieb aber.

Jakob wurde von den Großmüttern verzogen. Er war lieb, aber egoistisch, gewöhnt, dass alles Beste für ihn war. Gertrud merkte nicht, wann er nur noch an sich dachte. Sie gab sich die Schuld: Wie konnte ein Kind, das so viel Liebe bekam, so werden?

Als Jakob heiraten wollte, erklärte er, nicht mit den Eltern leben zu wollen. Seine Braut, Elke, fand das unvorstellbar. Auf den ersten Blick schüchtern, doch ihr gesenkter Blick, als schäme sie sich, machte Gertrud misstrauisch. Sie erinnerte sich an ihre eigene Jugend, wie sie vor den Schwiegereltern gezittert hatte, und schob die Zweifel beiseite. Die beiden zogen in die Stadtwohnung, ein Geschenk von Jakobs Großmutter. Auf der Hochzeit weinte Gertrud und wünschte ihnen Glück. Doch sie sah Elkes verächtliches Lächeln, ihr ungeduldiges Starren auf den Haustürschlüssel.

Gertrud sprach mit Heinrich, doch der winkte ab:

„Eltern bilden sich immer was ein, wenn Kinder heiraten. Sie war nur nervös.“

Gertrud nahm sich vor, nicht schlecht von der Schwiegertochter zu denken. Als ihre Mutter krank wurde, hatte sie andere Sorgen. Sie pflegte sie, dann die Schwiegermutter, ohne zu klagen. Beide holte sich das Alter, wie Heinrich tröstend sagte. Gertrud trauerte, aber das war das Leben.

Jakob kam einmal im Monat vorbei. Gertrud bereitete sich vor: packte Gemüse, Beeren, Eingemachtes ein. Heinrich brachte Fleisch vom Bauernhof. Jakob nahm es als selbstverständlich, half aber wenigstens im Haus, auch wenn er stets schnell zurück zu Elke wollte. Gertrud träumte davon, dass er öfter käme, wagte aber nicht, darum zu bitten.

Als Enkelin Lisa geboren wurde, änderte sich alles. Jakob und Elke kamen jede Woche. Gertrud, jetzt in Rente, nahm das Mädchen im Sommer zu sich, kümmerte sich wie um eine Tochter. Die Familie rückte näher zusammen: grillten, badeten im See. Doch in Elkes Augen lag etwas Verletztes, und Gertrud verstand nicht, warum.

Einmal beschwerte Elke sich, dass die Wohnung zu eng sei. Gertrud bot an, zu ihr zu ziehen, doch die Schwiegertochter rollte nur die Augen, als wäre das ein Hohn. Ihre Vorstellungen von Familie waren zu verschieden.

Alles wurde klar, als Heinrich starb. Gertrud war plötzlich allein. Sie aß nicht, schlief nicht, wartete nur, dass ihr Mann durch die Tür trat. Jakob stützte sie, kam öfter. Ohne ihn wäre sie in ihrer Trauer versunken.

Das Gespräch über den Hausverkauf begann er. Erst Andeutungen, dann direkt: Er sorge sich und wolle, dass sie zu ihnen zieheGertrud nickte schweigend, spürte Jakobs Hand auf ihrer Schulter, und plötzlich war alles still, als hätte der Wind selbst den Streit fortgetragen, und sie wusste, dass sie bleiben würde – nicht aus Trotz, sondern weil dies immer ihr Zuhause war und bleiben sollte.

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Der letzte Schatz