Lena stand vor dem Badezimmerspiegel und hielt den Schwangerschaftstest fest in der Hand. Ein Strich. Wie beim letzten Mal. Und wie beim Mal davor. Sie starrte darauf, in der Hoffnung, dass doch noch ein zweiter auftauchen würde. Vielleicht ganz schwach, vielleicht nur als Schatten. Doch es passierte nichts.
Ihr schnürte es die Kehle zu. Sie ließ die Hand sinken, atmete tief aus und ging langsam ins Wohnzimmer. Alles wiederholte sich. Falsche Hoffnungen, Warten, Enttäuschung. Und dabei hatte sie diesmal so fest daran geglaubt, dass es klappen würde.
Abends kam Henrik, ihr Mann, nach Hause. Kaum war er eingetreten, sagte sie schon:
*”Ich bin wieder nicht schwanger.”*
Er kam näher, nahm sie in den Arm, und sie vergrub ihr Gesicht in seiner Brust, um die Tränen zurückzuhalten.
*”Die Ärzte haben gesagt, es gibt noch eine Chance”,* flüsterte er. *”Wir können noch eine IVF versuchen. Wir geben nicht auf.”*
*”Und wenn das auch nicht hilft? Was dann?”*, fragte Lena und sah ihn an.
Henrik lächelte, strich ihr über das Haar:
*”Dann leben wir weiter. Zusammen. Glücklich.”*
Doch in Lenas Herz brachte diese Antwort keine Ruhe. Sie spürte: Irgendwann würde er sich doch ein richtiges Familienleben wünschen. Und was dann? Würde er gehen? Würde er bereuen, sein Leben mit einer Frau verbunden zu haben, die ihm keine Kinder schenken konnte?
Sie hatten es schon drei Jahre lang versucht. Zunächst locker, ohne Druck. Dann mit Planung, Zyklusberechnungen, Arztbesuchen. Eigentlich gab es kein schwerwiegendes Problem. Alles war behandelt worden. Laut den Untersuchungen stimmte alles. Trotzdem blieb das Kind aus.
Und jeden Monat durchlebte Lena denselben Kreislauf: Hoffnung – Warten – Enttäuschung – Tränen. Und dann war da noch Henriks Mutter. Gerlinde.
Seit dem Tag, an dem Henrik und Lena geheiratet hatten, wartete seine Mutter auf Enkelkinder. Zunächst nur Andeutungen. Dann Fragen. Später Vorwürfe.
Henrik hatte versucht, mit ihr zu reden, bat sie, sich herauszuhalten. Doch nichts konnte sie aufhalten.
*”Alle haben schon zwei Kinder, und ihr noch nicht einmal eins!”*, empörte sie sich. *”Was ist das denn für eine Familie?”*
Jedes Mal, wenn Gerlinde zu Besuch kam, frohr Lena das Blut in den Adern. Denn sie wusste: Es würde wieder um Kinder gehen. Um die *”Schwiegertochter, die etwas verheimlicht”*. Um den *”armen Sohn, der seine besten Jahre verschwendet”*.
Gerlinde sah Lena immer mit diesem herablassenden Blick an. Sie schimpfte nicht, wurde nicht laut, doch jeder ihrer Sätze war wie ein Nadelstich. Und irgendwann schlich sich in Lenas Gedanken der Verdacht ein: Vielleicht brauchte Henrik wirklich eine andere? Eine, die ihm ein Kind schenken könnte. Vielleicht wäre das fairer?
Eines Tages ging Gerlinde besonders unzufrieden. Und zwei Tage später, als Henrik auf Dienstreise war, klingelte es an der Tür.
*”Hat er was vergessen?”*, dachte Lena.
Doch vor der Tür stand nicht Henrik, sondern… Gerlinde. Im Mantel, mit Handtasche, entschlossenem Blick.
*”Darf ich reinkommen? Wir müssen reden, Lena.”* Ohne eine Einladung abzuwarten, trat sie ein und marschierte in die Küche.
Lena stellte automatisch den Wasserkocher an.
*”Worum geht es?”*
*”Lena, du bist ein gutes Mädchen. Lieb. Klug. Aber du musst gehen. Lass meinen Sohn frei.”*
Lenas Hand zitterte. Die Tasse wäre fast zu Boden gefallen.
*”Wie bitte?”*
*”Du weißt es doch selbst”*, fuhr Gerlinde fort. *”Ihr wartet seit drei Jahren auf ein Kind. Henrik sagt nichts, aber ich sehe es – er ist unglücklich. Er braucht eine richtige Familie. Liebst du ihn nicht? Dann lass ihn glücklich sein. Geh. Bevor es zu spät ist.”*
Lena schwieg. In ihr tobte ein Kampf. Was sie selbst immer verdrängt hatte, wurde nun laut ausgesprochen. Und es klang so überzeugend, dass es fast logisch erschien. Selbstlosigkeit in der Verpackung von Fürsorge.
*”Das entscheiden wir schon selbst”*, sagte Lena leise.
*”Er wird nicht von selbst gehen. Er tut dir leid. Aber du verstehst doch… so ein Leben ist kein Leben. Er braucht eine Frau, die ihm alles geben kann, was du nicht kannst.”*
Dann ging sie. Lena blieb allein in der Küche zurück. Es schnürte ihr die Brust zusammen. Sie wollte schreien, hatte aber keine Kraft mehr. Sie wollte Henrik anrufen – doch was sollte sie sagen?
Als er drei Tage später zurückkam, brach es schließlich aus ihr heraus:
*”Ich… ich lasse dich los. Du verdienst Glück, Henrik. Du sollst Vater werden.”*
*”Was redest du da für einen Unsinn?”*, packte er sie an den Schultern. *”Bist du verrückt geworden?”*
*”Ich kann dir kein Kind geben. Du träumst doch so davon. Und ich…”*
*”Und? Ist das ein Grund, mich aus unserem Leben zu werfen? Ich liebe dich, Lena. Nicht wegen Kindern. Nicht wegen irgendwelcher Zukunftsperspektiven. Wegen dir.”*
*”Und wenn ich es niemals kann?”*
*”Dann bleibe ich trotzdem bei dir. Für immer. Ohne Bedingungen.”*
Sie weinte. Und erzählte ihm alles. Von dem Besuch. Von dem Gespräch. Von den Worten.
Henrik wurde blass. Am nächsten Morgen fuhr er zu seiner Mutter.
Was in ihrer Wohnung passierte, wurde noch lange von den Nachbarn besprochen. Er schrie. Sagte, sie würde nie wieder die Schwelle seines Hauses betreten. Dass sie sich nicht einmischen dürfe. Dass wenn sie es noch einmal versuchen würde…
Und er hielt Wort. Ein halbes Jahr lang sah Gerlinde ihren Sohn nicht. Keine Lena, keine Enkelkinder, von denen sie so geträumt hatte. Denn dann geschah das Wunder. Zwei Monate nach dem schlimmen Gespräch zeigte der Test endlich zwei Striche. Den zweiten, auf den Lena so lange gewartet hatte.
Vielleicht lag es daran, dass sie ihre Angst losgelassen hatte. Dass Henriks bedingungslose Liebe ihre Zweifel schmolzen ließ.
Doch Henrik hatte es nicht eilig, es seiner Mutter zu erzählen. Lena hingegen wollte es. Aber sie wusste: Noch nicht. Erst als der Bauch deutlich sichtbar war, sagten sie es.
Gerlinde weinte. Bat um Vergebung. Versprach, sich nie wieder einzumischen. Der Enkel kam gesund zur Welt, und sie war eine gute Oma. Doch zwischen ihr und Lena blieb eine Distanz. Kühl. Stumm.
Lena konnte viel verzeihen. Aber nicht, dass man sie auslöschen wollte. Dass man ihr ihren Mann, ihre Liebe, ihre Hoffnung, ihr Leben nehmen wollte.
So etwas vergisst man nicht.