Im Schatten des Sturms

**Im Schatten des Gewitters**

Anna Müller betrat erneut das Wartezimmer der Frauenarztpraxis in dem beschaulichen Städtchen Waldheim. Schon im letzten Monat war sie mehrfach hier gewesen, und jedes Mal endete der Besuch mit Tränen, die einfach nicht aufhören wollten. Tief im Inneren hoffte sie wohl, dass jemand sie davon abbringen würde, ihr die Hand reichen und sagen würde, dass alles gut werden würde. Doch eine Antwort auf diese stumme Frage fand sie nicht. Ihr Leben hatte sich in einen festen Knoten verwandelt, und in dessen Mitte lag ein unschuldiges Kind, das sie unter ihrem Herzen trug. Alle um sie herum – Verwandte, Bekannte, sogar die Ärzte – sagten dasselbe: „Wozu brauchst du als alleinstehende Frau in deinem Alter ein viertes Kind? Denk an dich selbst!“

Noch vor Kurzem war Annas Leben wie ein glückliches Gemälde gewesen: ein liebevoller Ehemann, ein gemütliches Haus in Waldheim, drei Kinder, deren Lachen und Getrampel das Zuhause mit Wärme erfüllten. Doch das Schicksal schlug zu – ihr Mann kam bei einem Autounfall ums Leben und ließ sie allein mit drei heranwachsenden Kindern zurück. Der Alltag war hart, Anna zog die Familie durch, so gut sie konnte, und vergaß dabei sich selbst. Sie fühlte sich nicht mehr wie eine Frau, sondern wie eine erschöpfte Schattenfigur, die ständig von einer Sorge zur nächsten hetzte. Und doch sehnte sie sich irgendwann danach, sich wieder lebendig, begehrt und geliebt zu fühlen. Sie lernte einen Mann kennen, der ihr wie eine feste Stütze erschien. Doch sobald das Thema Kind zur Sprache kam, verschwand er und ließ nur ein kaltes „Ich bin nicht bereit, Vater zu werden“ zurück. Und so blieb Anna allein, mit einem schweren Herzen und Angst vor der Zukunft.

Die Zeit verging, doch eine Entscheidung traf sie nicht. Immer wieder kehrte sie in die Praxis zurück, hörte sich die Argumente der Ärzte an, schüttelte den Kopf und weinte. Sie wusste nicht, wohin mit ihrem Schmerz, und die Wände des Krankenhauses wurden ihr stummes Refugium.

An diesem Abend saß Anna auf einem harten Stuhl im Flur, das Gesicht in den Händen vergraben. Tränen liefen über ihre Wangen, und die feuchten Haare klebten an ihrem Gesicht. Draußen tobte ein Gewitter, Donner grollte über das Städtchen, und plötzlich erlosch das Licht im Flur. Die Dunkelheit umfing Anna, und Panik stieg in ihr auf. „Lieber Gott“, flehte sie in Gedanken und ballte die Fäuste, „beschütze mein Kind! Hilf mir, ich weiß nicht, was ich tun soll!“

Dann flammte das Licht wieder auf, und der Leiter der Abteilung erschien im Flur. Hinter ihm kam, mit Eimer und Wischmopp klappernd, die Oma Klara – Klara Schmidt, wie sie seit Langem niemand mehr nannte. Früher war sie Krankenschwester gewesen, die rechte Hand der Ärzte, die junge Mütter vor Komplikationen bewahrt und Neugeborenen geholfen hatte. Ihre von der Arbeit gezeichneten Hände schienen Wunder zu vollbringen, und ihre Gebete, von denen nur wenige wussten, brachten Heilung. Doch mit der neuen Verwaltung kam sie nicht zurecht, und so blieb sie im Alter als Reinigungskraft in der Praxis. Oma Klara wurde respektiert und ein wenig gefürchtet – in ihr steckte eine unbeugsame Kraft, gepaart mit entwaffnender Güte.

Der Chefarzt ging vorbei, ohne Anna eines Blickes zu würdigen. Oma Klara dagegen blieb stehen. Sie wusch lange ihre Hände, wie sie es aus ihrer Zeit in der Medizin gewohnt war, und setzte sich dann neben Anna.

„Na, erzähl mal, was dir auf dem Herzen liegt“, sagte sie und sah Anna mit ihren klaren, fast jugendlichen Augen an. „Schau, du hast ja den ganzen Flur mit deinen Tränen geflutet.“

Anna hätte sich über diese Direktheit ärgern können, doch in Oma Klaras Augen lag so viel Wärme, dass sie noch heftiger weinte. Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus: vom Tod ihres Mannes, vom schweren Leben mit drei Kindern, von dem neuen Kind, das niemand erwartete – weder der davongelaufene Vater noch die Verwandten oder die Ärzte.

Oma Klara hörte schweigend zu, dann lachte sie leise – ein Lachen so sanft wie ein Sommerwind. In ihren Augen funkelte es.

„Meine Mutter“, begann sie, „hat nach dem Krieg sechs Kinder allein großgezogen. Mein Vater kam nicht zurück, und sie nahm noch drei Nachbarskinder auf, Waisen. Sie arbeitete auf dem Feld, schlief drei Stunden pro Nacht, aber sie hat alle durchgebracht. Und alle sind was geworden, hatten ein gutes Leben, und bis zuletzt haben sie die Mutter geehrt. Und du, mein Kind, hör auf keinen. Du wirst es austragen, zur Welt bringen, und dieses Kind wird deine Freude sein. Kinder sind Engel, die uns Gott als Hilfe schickt. Hab keine Angst, bei Gott ist alles im Überfluss vorhanden.“

Diese Worte schienen Anna eine Last von den Schultern zu nehmen. Sie spürte, wie Jahre der Müdigkeit und des Schmerzes verschwanden, und es war, als wüchsen ihr Flügel. Als sie wieder zu sich kam, stand sie schon draußen, wo der warme Regen ihre Tränen fortspülte. Ihr Herz war leicht, wie nach einem Gewitter, und das bedrückende Gefühl war für immer verschwunden. Nun wusste sie genau, was sie tun würde.

Das Mädchen, das in jenem Jahr zur Welt kam, wurde das Herz der Familie. Klug, liebevoll, mit den gleichen hellbraunen Haaren wie ihre Mutter, half sie mit fünf Jahren bereits im Haushalt und war der Stolz ihrer älteren Brüder. Anna heiratete nie wieder – ein neues Wunder blieb aus. Doch was in jener Gewitternacht geschah, war ein wahres Wunder. Ob es Oma Klara war oder ein Engel, der vom Himmel geschickt wurde, wusste Anna nicht. Sie traf Klara Schmidt nie wieder. Manche hielten es für ein Wunder, dass der älteste Sohn mit zwanzig zu arbeiten begann und seine Mutter mit dem ersten Gehalt in ein Sanatorium schickte. Doch Anna lächelte nur: „Wir werden sehen, was aus meinen Kindern wird. Bei Gott, so heißt es, ist alles im Überfluss.“

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Im Schatten des Sturms
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