Geständnis im Schatten der Vergangenheit

Lena konnte ihren Mann nicht aus den Augen lassen. Markus aß langsam seine Kartoffelsuppe, sorgfältig jeden Löffel des duftenden Suds genießend. Unter ihrem durchdringenden Blick erstarrte er, als spürte er ein kaltes Kribbeln der Unruhe im Nacken.

„Hast du was angestellt?“, fragte er mit leichtem Grinsen, um die Spannung zu brechen.

„Gibt’s was zuzugeben?“, konterte Lena im selben Ton, doch ihre Augen blieben ernst. Ihr Gesicht entspannte sich nur kurz, und Markus atmete erleichtert aus. Zu früh. Sofort ging seine Frau in die Offensive. „Ich möchte dir eine Frage stellen. Und bitte, antworte ohne Witze. Es ist wichtig.“

Markus legte den Löffel beiseite und runzelte die Stirn.

„Na dann los“, murmelte er und bereitete sich auf etwas Kompliziertes vor.

„Diese Frage stellt wohl jede Frau mindestens einmal im Leben“, zögerte Lena und nestelte an der Tischdecke. Sie spielte nicht absichtlich auf Zeit – sie fürchtete die Antwort. „Was denkst du, wonach ich frage?“

Markus dachte nach. Sein Gesicht wurde ernst, und schließlich antwortete er:

„Ich schwöre, ich gucke keine anderen an. Fremdgehen? Kommt mir nicht mal in den Sinn.“

„Darauf will ich nicht hinaus“, winkte Lena ab, doch dann zuckte sie zusammen. „Warum denkst du gleich an Fremdgehen?“

„Du hast gestern diese Sendungen über Untreue geguckt“, zuckte Markus mit den Schultern. Er war an ihre Direktheit und Naivität gewöhnt, fühlte sich aber trotzdem wie auf dem Präsentierteller. „Ehrlich gesagt, ich hab’s kommen sehen.“

„Nein, es geht um Liebe.“ Lena verschränkte die Arme, als müsste sie sich schützen. „Sag mir, Markus, warum liebst du mich? Und sei ehrlich.“

Stille. Jede Sekunde fühlte sich an wie eine Ewigkeit, und Lenas Herz krampfte sich vor Angst zusammen. Doch die Antwort ihres Mannes war schlimmer als Schweigen. Ernst, ohne ein Lächeln, sagte er:

„Einfacher wäre es zu sagen, warum ich dich *nicht* liebe.“

„Warum denn?“, brach ihre Stimme, fremd in ihren eigenen Ohren. Ihr schwindelte, als würde der Boden unter ihr weggezogen.

Diese Frage quälte sie seit Kindertagen. Warum lieben sich Menschen? Eltern liebt man, weil sie Eltern sind. Großeltern für ihre Güte und Fürsorge. Kinder, weil sie einem gehören. Doch was hält Verliebte zusammen? Als Kind glaubte Lena: Finde den Grund für die Liebe, und das Glück wird ewig währen. Es schien so einfach, fast wie eine mathematische Formel. Sie suchte Antworten in Büchern, fand aber nur vage Beschreibungen von „Funken“, „Chemie“, „Elektrizität“ – nichts Greifbares.

Einmal, als sie im Park ihrer Heimatstadt Köln spazierte, belauschte sie zufällig ein Gespräch. Ein junger Mann, Tim, hatte seine Freundin auf eine Bank am alten Brunnen geführt. Sie flüsterten, unbeachtet von ihrer Umgebung, und gestanden sich ihre Liebe. Tim sagte, er liebe sie für ihre strahlenden Augen, ihre schlanke Figur und ihre sanfte Stimme. Sie erwiderte, er sei mutig und könne schön reden. Da entschied Lena: Wenn das Mädchen ihre Schönheit bewahrte, würde Tims Liebe ewig halten. Die Logik schien wasserdicht. Das Paar heiratete bald, und von außen wirkte ihr Leben perfekt. Doch ein Jahr später kam ein Kind zur Welt, und ein halbes Jahr danach sah Lena, wie die weinende junge Frau mit dem Baby in ein Taxi stieg. Sie ließen sich scheiden.

Lenas Schlussfolgerung: Schönheit ist der Schlüssel zur Liebe. Verblasst sie, stirbt die Liebe. Doch das Leben warf neue Rätsel auf. Im Vorort von Köln lebten Nachbarn – Tante Helga und Onkel Heinrich. Sie stritten oft, neckten einander, doch ihre Augen strahlten Wärme aus. Tante Helga war rundlich, mit müden Beinen, von Krampfadern gezeichnet, und trug stets ein Tuch über ihren dünner werdenden Haaren. Heinrich dagegen wirkte jugendlich, war witzig und kam leicht mit Leuten ins Gespräch. Ihre Ehe war Lena ein Rätsel.

Abends backte Tante Helga Apfelkuchen, kräuterte Tee, während Onkel Heinrich Grillwürste zubereitete. Sie luden Lenas Familie ein, überschütteten sie mit Gartenfrüchten – Beeren, Gemüse –, sodass das Auto ihrer Eltern auf dem Rückweg fast den Boden streifte. Lenas Eltern revanchierten sich: Die Mutter nähte für Tante Helga Kleider, der Vater half Heinrich beim Schuppenrenovieren. Als Tante Helga schwer erkrankte und ins Krankenhaus kam, gab Heinrich alles, um sie zu retten. Er verkaufte sein Auto, hielt Tag und Nacht an ihrem Bett Wache. Lena, die noch in Schwarz-Weiß dachte, verstand nicht: Wozu brauchte er eine kranke, ältere Frau?

Die Mutter bewunderte Heinrich, nannte ihn einen „echten Mann“. Der Vater brummte, dass Sorge um die Frau keine Heldentat, sondern Pflicht sei. „Wärst du krank, ich würde alles verkaufen, um dich zu retten“, sagte er zu Lenas Mutter. „Doch das ist kein Heldentum, sondern die Angst, den zu verlieren, den man liebt.“ Lena sah, wie ihre Mutter lächelte, und verstand: Ihr Vater wollte nur seine Gefühle betonen.

Als Tante Helga gesundete, kehrte ihr Leben zur gewohnten Normalität zurück – mit Kuchen, Grillabenden und freundschaftlichen Streitereien. Lena wagte die Frage: „Onkel Heinrich, warum liebst du Tante Helga?“ Er antwortete einfach: „Sie ist meine Hälfte. Ohne sie bin ich nicht ich.“ Die Antwort war poetisch, aber leer. Lena verstand es nicht. Vielleicht war das die „Chemie“, von der die Bücher sprachen? Unsichtbare Magie, die sich nicht erklären ließ.

Tim liebte mit den Augen, Heinrich mit dem Herzen. Doch beide liebten wahrhaftig. Lena sah die Welt weiter in Kontrasten: Liebe war entweder perfekt oder zum Scheitern verurteilt. Das Leben lieferte Beispiele: Paare schworen ewige Liebe, trennten sich dann, als hätte es die Schwüre nie gegeben. Besonders beunruhigend waren Geschichten von Paaren, die jahrzehntelang zusammenlebten, um plötzlich festzustellen, dass sie Fremde geworden waren.

Tante Margot und Onkel Klaus, Verwandte mütterlicherseits, waren so ein Paar. Sie wirkten perfekt: attraktiv, klug, ohne Streit. Lenas Mutter stellte sie oft als Beispiel hin, wenn sie sich mit dem Vater zankte. „Klaus denkt im Gegensatz zu dir immer an die Familie“, sagte sie. Der Vater konterte: „Und bei Margot ist immer Ordnung im Haus. Für so eine Frau lohnt es sich, Mühe zu geben.“ Lena hielt ihre Ehe für vorbildlich. Doch eines Tages ließen sie sich scheiden – leise, ohne Drama. Tante Margot gestand, die Trennung habe sie befreit. Sie träumte von neuer Freiheit, neuen Begegnungen. Klaus dachte ähnlich. Zwei Jahre später fanden sie wieder zueinander, als hätten sie ihre Gefühle „gelüftet“.

Für Lena kamen solche Beziehungen nicht infrage. Lieber wie Oma und Opa. Sie waren ein halbes Jahrhundert zusammen, hatten alles durchlebt – von Armut bis Untreue. Die Mutter erzählte, wie Opa trank, wie Oma es ertrug, zwei Jobs hatte, während er den Lohn verprasste. „Warum ging sie nicht?“, fragte Lena. „Es waren andere Zeiten“, antwortete die Mutter. „Man reparierte, anstatt wegzuwerfen.“ Die Oma stellte Opa vor die Wahl: Entweder er hörte auf zu trinkenOder sie ging – doch Opa leerte zwar eine Flasche Schnaps ins Spülbecken, nur um gleich die nächste in einem Zug zu leeren, und Oma blieb dennoch, weil selbst dieser kleine Schritt für einen Trinker damals schon ein Wunder war, und so fand Lena schließlich in Markus’ Armen die Antwort, ohne sie je in Worte fassen zu müssen.

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Geständnis im Schatten der Vergangenheit
Licht in der Dunkelheit