Anna Meier saß auf der Bank unter dem alten Kirschbaum, dessen Äste unter der Last der reifen Früchte fast brachen. Die Ernte war außergewöhnlich gut, wie damals im Jahr 1992, als sie mit ihrer Tochter Marina stundenlang Marmelade kochte. Jetzt fielen die Kirschen zu Boden und hinterließen dunkle Flecken auf Annas alter Arbeitsschürze. Sie rührte sich nicht – was machte es schon aus, die Schürze war ohnehin nur für die Hausarbeit. Daneben lag die Ziege Liesel an einem langen Strick. Die Nachbarn murrten, wenn Anna sie frei herumlaufen ließ: Liesel war eine Meisterin darin, Wäsche von der Leine zu ziehen oder Blumenbeete zu zerstören. Besonders mochte sie Geranien.
„Die Möhren sind bald reif“, sagte Anna und sah Liesel an. „Ich geb’ dir was ab, obwohl du es nicht verdient hast. Wer hat denn bei Nachbarin Helga den Kohl angenagt? Musst ja was von unserer Ernte abkriegen… Ach, Liesel, der Regen kommt, und du liegst einfach da. Komm in den Stall, sonst werden wir noch nass.“
Die Wolken wurden dunkler, und in der Ferne zuckte ein Blitz. Anna seufzte und ging, um die Wäsche abzunehmen. Sie war noch nicht ganz trocken, aber besser jetzt holen, als später den Schlamm auswaschen zu müssen – die Leine hing durch, und Anna hatte nicht mehr die Kraft, sie straff zu ziehen.
„Hallo, ist hier jemand zu Hause?“ ertönte eine Stimme.
Anna zuckte zusammen und ließ fast das Bettlaken fallen. Am Gartentor stand ein Mädchen in Jeans und einem weißen Top mit dünnen Trägern. Ihr Gesicht, mit einem Muttermal über der Lippe, kam ihr vage bekannt vor, wie von einem verblassten Foto. „Entschuldigung, wohnt hier Maximilian Bauer?“ fragte sie leicht ungeduldig.
„Den gibt’s hier nicht“, antwortete Anna und breitete die Hände aus. Ein Windstoß riss das Laken fort, doch das Mädchen fing es geschickt auf und reichte es ihr zurück.
„Wie, den gibt’s nicht?“ Die Besucherin wirkte verwirrt und zog einen Zettel aus der Tasche. „Hier steht die Adresse, ist das nicht Ihre?“
Anna warf einen Blick auf das Papier. Es war tatsächlich ihre Adresse – Straße, Hausnummer, alles stimmte. Aber ein Maximilian lebte hier nicht. „Woher hast du das?“ fragte sie, während ihr Herz sich vor einer unerklärlichen Beklemmung zusammenzog.
„Wer ist er dir, dieser Maximilian?“ fügte sie hinzu und bemühte sich, ruhig zu klingen.
„Groß, gutaussehend, dunkle Haare, und die Augen… wie Ihre, blau“, antwortete das Mädchen, und ihre Stimme zitterte.
Anna schüttelte den Kopf. „Die Bauers gibt’s hier nicht mehr. Da war mal einer, ein Landmaschinenmechaniker, aber der ist seit zehn Jahren weg.“ Sie erinnerte sich an den alten Nachbarn.
Das Mädchen schien in sich zusammenzusacken, wie ein Luftballon, den Marina als Kind so geliebt hatte. Ihre Schultern sanken, der Blick wurde leer. „Wie soll ich ihn denn jetzt finden?“ flüsterte sie mehr zu sich selbst als zu Anna.
Dicke Regentropfen prasselten auf die Erde. Anna drückte dem Mädchen die Wäsche in die Arme: „Bring das rein, ich bring Liesel in den Stall.“ Verwirrt folgte die Besucherin der Aufforderung und ging zur Haustür. Anna, nachdem sie die Ziege versorgt hatte, kehrte ins Haus zurück, wo das Mädchen noch immer im Flur stand und die Wäsche an sich drückte.
„Wie heißt du eigentlich?“ fragte Anna und klopfte sich die Hände ab.
„Greta“, antwortete das Mädchen, und ein schwaches Lächeln ließ ein Grübchen auf ihrer Wange erkennen.
„Ich bin Anna Meier. Komm, ich mach uns Tee, wo willst du denn im Regen hin?“ Die Hausherrin führte den Gast in die Küche.
Während der alte Wasserkessel auf dem Herd summte, holte Anna Johannisbeermarmelade und stellte Tassen bereit. Greta schwieg und spielte nervös mit ihrem Löffel. „Wohnst du allein?“ fragte sie und bemerkte, wie Anna lange nach einer zweiten Tasse suchte und den Staub abwusch.
Anna nickte, doch sie log: „Allein. Mein Mann, Friedrich, ist seit fünf Jahren nicht mehr da. Meine Tochter Marina lebt in der Stadt, besucht mich einmal im Monat mit den Enkeln.“ Sie wollte nicht zugeben, dass Marina sie seit Friedrichs Tod kein einziges Mal besucht hatte. Wozu einem Fremden die Wunden zeigen?
Greta hörte nur halb zu, ihre Gedanken waren weit weg. Anna, während sie den Tee einschenkte, fasste sich ein Herz: „Wer ist er, dieser Maximilian?“
Greta seufzte, und ihre Stimme bebte: „Jetzt wohl niemand mehr.“ Sie erzählte, wie sie ihn im Bus kennengelernt hatte, wie er sie ins Café eingeladen hatte, später ins Hotel. „Ich dachte, das würde für immer sein“, flüsterte sie. „Er gab mir diese Adresse, sagte, er wohne im Dorf, sei nur kurz in der Stadt gewesen. Hat mich aufgefordert, ihn zu besuchen.“
Anna lauschte, und in ihrer Brust wuchs ein schmerzhaftes Gefühl. Sie erinnerte sich an ihre eigene Jugend, als der Traktorfahrer Heinrich ihr die Sterne versprochen und sie dann verlassen hatte, als er von ihrer Schwangerschaft erfuhr. Zum Glück hatte Friedrich, ihr späterer Mann, sie und Marina ohne Vorwürfe aufgenommen. „Ich hatte auch so einen Heinrich“, sagte sie. „Hat viel versprochen und ist dann verschwunden. Aber das Leben hat mich zu einem guten Menschen geführt.“
Greta lächelte, ihr Gesicht in den Händen verbergend. Sie redeten lange, der Regen draußen ließ nach, doch keine von beiden hatte es eilig. Greta warf einen Blick auf die Uhr, und Anna sagte: „Zum Bahnhof sind es nur drei Kilometer zu Fuß, du schaffst den Zug noch.“ Sie packte dem Mädchen ein Glas Marmelade ein, umarmte sie und flüsterte: „Die richtige Liebe findet dich noch.“
Greta, die Tränen trocknend, lächelte und ging. Anna sah ihr lange nach, dann ging sie, um Liesel wieder herauszulassen. In ihrem Herzen flackerte eine leise Hoffnung: Vielleicht hatte das Leben auch für sie noch etwas Gutes bereit.