Eine geheime Begegnung, die alles veränderte
Annika saß am Fenster und starrte gedankenverloren auf die Passanten, die über den Bürgersteig hasteten. Jeder von ihnen schien ihr aufreizend glücklich. Sommer, Sonnenschein, sorglose Gesichter – alle schienen Pläne zu schmieden, zu träumen, das Leben zu genießen. Und sie? Sie hatte nichts als die endlose Routine. Berge von schmutzigem Geschirr, Wäsche, Putzen, der ständig leere Kühlschrank – es fühlte sich an, als würde alles Leben aus ihr herausgesaugt. Ihr Geburtstag, der unaufhaltsam näher rückte, kam ihr wie eine höhnische Fügung vor, ein weiterer Grund, sich nutzlos zu fühlen.
„Alle haben frei, nur ich nicht“, dachte sie bitter. Keine Freude, die Laune im Keller. Ihr Leben war ein ewiger Kreis, jeder Tag wie der vorherige. Arme Frauen – durch ihre Hände geht der ganze Dreck der Welt, und ihre Gedanken werden davon trüb. „Was für eine Frau bin ich eigentlich, wenn ich nur in der Küche stehe?“, grübelte Annika traurig.
Es schien, als würde sich niemand für ihren besonderen Tag interessieren. Die Familie sah es als Pflicht: Man musste gratulieren, ein Geschenk besorgen. Natürlich würde es welche geben, aber welche? Praktische, langweilige Dinge, ohne Seele. Also beschloss Annika, sich selbst ein wenig Freude zu schenken.
Entschlossen stand sie auf, zog ein leichtes Kleid an und machte sich auf den Weg ins Einkaufszentrum in der Münchner Innenstadt. Sie wurde fünfundvierzig, doch niemand teilte ihren Wunsch zu feiern. Privatleben? Ja, sie war verheiratet, hatte ein Haus, Kinder, einen Ehemann. Doch der Mann… flirtete ständig mit anderen. Zunächst hatte sie gekämpft, dann verziehen, bis sie einfach müde wurde. Sie hatte ihn längst aus ihrem Herzen gestrichen, um sich nicht weiter zu quälen.
Auf dem Weg zur Schmuckabteilung holte sie noch schnell Lebensmittel für die Feier. Im Juwelier traf sie ihre alte Bekannte Simone. Zusammen suchten sie ein feines goldenes Armband aus – nicht, dass sie es wirklich brauchte, aber sie wollte sich etwas Gutes tun. Simone verpackte das Geschenk hübsch, und als Annika die blaue Tüte in der Hand hielt, klagte sie ihrer Freundin das Herz aus. Doch die Freude blieb aus. Die Last auf ihrer Seele wurde nur schwerer.
Annika verließ den Laden, die vollen Tüten fast nicht mehr haltend. Schon fast am Ausgang rief eine junge Stimme sie zurück. Als sie sich umdrehte, sah sie einen Teenager, der ihr die blaue Schmucktüte entgegenhielt.
„Sie haben das fallen lassen – hier“, sagte er.
„Oh, danke! Wie ungeschickt von mir!“, stieß Annika hervor, während ihr die Röte ins Gesicht schoss.
Hinter dem Jungen humpelte eine Frau. Irgendetwas an ihr kam Annika schmerzhaft vertraut vor. Sie musterte sie genauer – und erstarrte. Es war Birgit, ihre ehemalige Klassenkameradin.
Damals hatten sie zusammen in einer Schule am Münchner Stadtrand gelernt. Birgit litt schon damals an gesundheitlichen Problemen – ein Bein war kürzer, weshalb sie langsam und mühsam ging. Für ein junges Mädchen eine harte Prüfung. Birgit blieb meist für sich, fern von Trubel und Klatsch. Annika hatte Mitleid mit ihr, aber ein kaltes, fast hochmütiges. „Wie unglücklich sie ist – wie soll sie so leben?“, dachte Annika damals, eine der beliebtesten im Klassenverband.
Sie erinnerte sich, wie ihre beste Freundin ihr den Freund ausspannte, wie sie auf der Schultreppe weinte. Damals setzte sich nur Birgit schweigend zu ihr, und Annika vergrub ihr Gesicht in deren Schoß, während Birgit ihr einfach über den Kopf strich. Doch selbst danach mied Annika sie. Birgit war zu „anders“, passte nicht in ihre bunte Welt.
Jetzt, Jahre später, war die Begegnung unerwartet herzlich. Annika schlug vor, sich zu setzen und zu plaudern. Sie erinnerten sich an Schulzeiten, Lehrer, Mitschüler. Annika erzählte von sich – zunächst mit leichter Prahlerei, wie es oft bei Treffen mit der Vergangenheit ist. Doch Birgits Leben war hart gewesen. Ihre ohnehin schwache Gesundheit wurde immer schlechter. Sie blieb allein mit ihrem Neffen, den sie seit seinem fünften Lebensjahr großzog. Doch Birgit sprach über ihre Nöte mit einem Lächeln, nicht klagend, sondern beiläufig, und wechselte schnell zu helleren Momenten.
Der Junge, ihr Neffe, stand nicht weit entfernt und starrte sehnsüchtig auf die Fahrräder im Center. Er berührte sie, setzte sich probeweise drauf.
„Er wünscht sich eins“, sagte Birgit sanft. „Aber sie sind so teuer.“
Plötzlich verspürte Annika den Drang, ehrlich zu sein. Sie erzählte alles: die Affären ihres Mannes, die angespannte Beziehung zu den Kindern, die schiere Müdigkeit vom Einerlei. Je mehr sie redete, desto mehr begriff sie, dass ihre Probleme nichts gegen Birgits Schicksal waren. Diese sprach so leicht über ihr Leid, als wäre es nicht ihres. Und dabei war sie immer von Menschen wie Annika umgeben – gleichgültig, in sich gekehrt. Doch Birgit lächelte noch immer, warm und aufrichtig.
„Wie viel Weisheit gehört dazu, um so gütig zu bleiben?“, dachte Annika, als sie das Center verließ. Birgit und ihr Neffe blieben bei den Rädern zurück – doch Annikas Herz war plötzlich leicht. Sie wusste nicht genau, was sie so berührt hatte. Der Vergleich mit einem anderen Schicksal? Oder einfach, dass sie sich alles von der Seele geredet hatte? Nein, es war etwas anderes. Birgit strahlte trotz allem Licht aus – und dieses Licht hatte Annika erreicht.
Sie blieb stehen. Etwas kippte in ihr. Sie kehrte um, zurück zu Birgit und dem Jungen. Eine halbe Stunde erklärte sie wirr, warum ihr das so wichtig war: Sie wollte ihm das Fahrrad kaufen. Für Birgit wäre die Summe unerschwinglich gewesen – monatelanges Sparen. Doch sie verstand, dass eine Absage Annika etwas Wichtiges genommen hätte. Dieses Geschenk war nicht nur für den Jungen, sondern auch für Annika selbst.
Nach dem Einverständnis stürzte sie sich begeistert in die Auswahl. Sie verglich Modelle, ließ den Jungen Probe sitzen. Birgit beobachtete sie und wusste, sie hatte richtig gehandelt. Ein Geschenk, das mit so viel Hingabe ausgesucht wurde, war mehr als ein Gegenstand – es war reine Freude, in Materie verwandelt.
Drei glückliche Menschen – Annika, Birgit und ihr Neffe – verließen das Center. Sie lachten, redeten durcheinander, passten ihr Tempo Birgits langsamen Schritten an. Am Haus angekommen, tauschten sie Nummern aus.
„Annika, ich werde das Geld abstottern“, flüsterte Birgit.
Doch Annika schüttelte den Kopf.
„Unsinn! Ich bin heute glücklicher als seit Ewigkeiten. *Du* hast *mir* ein Geschenk gemacht. Ich weiß jetzt, dass ich etwas ändern kann – und zwar selbst. Unser Treffen war ein Geschenk des Schicksals.“
Der Neffe rollte auf seinem neuen Rad heran und strahlte:
„Vielen Dank! Wirklich, vielen Dank! Mein Traum ist wahr geworden!“
Annika drückte seine Hand, und Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie fühlte sich wie eine kleine Zauberin. So lange hatte sie niemand mehr so aufrichtig gedankt…